Die Kraft eines freien Geistes

Lampedusa, Italien: Die Ausschiffung ist im Gange, während zwei Männer aus Westafrika auf der anderen Seite des Hafens in Cala Guitgia am Ufer sitzen. 7. Mai 2017. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 

Von:
Judith De Santis, Deutschland-Korrespondentin

Veröffentlicht am:
15 Dezember 2022


Übersetzung und Bearbeitung von:
Jacqueline A. Robinson,
Susanne Rinner



Im Frühjahr 2017 – bevor ich überhaupt wusste, dass es das Projekt Migrants of the Mediterranean (MotM) gibt – führte ich eine ethnographische Feldforschung auf Lampedusa durch. Es war ein einzigartiger Ort zu einer einzigartigen Zeit. Zum Beispiel war es nicht ungewöhnlich, dass ich mich morgens in einem Café neben schwer bewaffneten Militärpolizist*innen wiederfand, die Cappuccino tranken.

Diese Situation veranschaulicht so gut, was für ein Ort Lampedusa ist: ein Ort der Widersprüche und des Dazwischens. Auf der Insel waren zahlreiche Beamt*innen, Grenzpolizei und militärische Gruppen stationiert. Es zeigte mir sofort, wie komplex die Realitäten des täglichen Lebens sein können.

Lampedusa ist ein kleiner schroffer Felsen im zentralen Mittelmeer. Geografisch gesehen liegt die Insel näher an Tunesien als an Italien und ist nur etwa 20 Quadratkilometer groß. Sie ist aber auch eine der am meisten beachteten Peripherien Europas. Seit den 1990er Jahren hat sich die Insel zu einer Transitzone für Menschen aus den Maghreb-Staaten – aus Libyen und Tunesien – sowie aus den Ländern der Subsahara und dem Horn von Afrika entwickelt.

Außerdem ist die Mittelmeerinsel ein beliebtes Urlaubsziel. In den Sommermonaten kann es vorkommen, dass sich dort bis zu 11.000 Tourist*innen (inoffizielle Berichte der Inselbewohner*innen sprechen von bis zu 50.000) aufhalten, obwohl die Insel offiziell nur 6.000 Einwohner*innen hat.

Auf Lampedusa hat sich auch ein sehr komplexes europäisches Grenzregime etabliert. Dessen Ziel ist es, undokumentierte Migration zu steuern, und seit 2015 ist Lampedusa auch als EU-Hotspot deklariert. In ihrem Zentrum, versteckt in einem Tal, werden die ankommenden Migrant*innen registriert, ihre Fingerabdrücke gespeichert und schließlich auf das Festland transportiert.

Die spektakuläre Medienberichterstattung und der politische Diskurs verkomplizieren die Identität der Insel zusätzlich, denn es haben sich vorherrschende Narrative herausgebildet, die sie entweder als "Flüchtlingsinsel" oder als “Insel der Gastfreundschaft” bezeichnen.


Wie man sehen kann, ist die Insel ein Austragungsort für ein regelrechtes Schauspiel der Macht.

Es ist, als ob alle Anwesenden versuchen würden, Kontrolle über dieses kleine Stück der europäischen Außengrenze zu erlangen.

Ich sah, wie Sicherheitskräfte, Mitarbeiter*innen der Regierung von Lampedusa, Mitarbeiter*innen der Grenzschutzagentur Frontex, humanitäre Organisationen, nicht-staatliche Organisationen, Journalist*innen und Tourist*innen, ganz zu schweigen von den Einwohner*innen selbst, versuchten, sich einen Reim auf die Situation zu machen.

Die ankommenden Migrant*innen hatten die Möglichkeit, den “Hotspot” bzw. das Aufnahmezentrum zu verlassen und sich frei zu bewegen, um ins Stadtzentrum zu gehen. Es war üblich, dass sie das Lager tagsüber durch eine Lücke im Maschendrahtzaun verließen. Mögliche Spannungen innerhalb des Lagers, die durch Überbelegung verursacht wurden, sollten so vermieden werden, erklärten Inselbewohner*innen.

So traf ich Lamin* und Bubakar* auf der Via Roma, der Hauptstraße von Lampedusa. Es war unkompliziert, ins Gespräch zu kommen. Wir waren unter uns und sprachen dieselbe Sprache, nämlich Englisch. Auf diese Weise, oder zumindest in diesem Moment, gehörte die Welt uns.

Unser Vertrauen zueinander wuchs. Aus kurzen Wortwechseln wurden lange Gespräche. Ich lernte so viel über die Bedingungen in der Wüste der Sahara, unter anderem auch, dass die Menschen, die auf der Flucht sind, oft Ausbeutung und Gewalt in Libyen erleben – ganz zu schweigen von den unvorstellbaren Erlebnissen bei der Überfahrt über das Meer, worüber Du auf Migrants of the Mediterranean gelesen hast.

Die Umgebung war bizarr, die Geschichten waren erschütternd, und wir wussten nicht, was als nächstes passieren würde.

Lange Zeit herrschte Schweigen, im Fall von Lamin sogar fünf Jahre lang.

Vor ein paar Monaten erhielt ich eine Sprachnachricht von einer unbekannten Nummer. Es gab weder ein Profilbild noch einen Namen. Als ich sie anhörte, haute es mich um.

Aber vor allem war ich erleichtert:
Er war noch da.
 


“Ja, hallo, Judith! Guten Morgen. Wie geht es dir?” Es war Lamin, nach fünf Jahren. Ich war schockiert und gerührt. Aber vor allem war ich erleichtert: Er war noch da.

Er hatte Bubakar am Bahnhof in Mailand getroffen, der ihm meine Nummer gab, nachdem er sie vor Jahren verloren hatte. Bubakar ist eine ganz eigene Persönlichkeit, jemand, der sich um andere Menschen kümmert. Ein anderer erzählte mir einmal, als wir noch auf der Insel waren: ”Er ist derjenige, der alle aufmuntert”, er macht immer Witze, sagte er.

Diese Erinnerungen – so viele Jahre später – kamen wieder hoch. Und als neue Deutschland-Korrespondentin von Migrants of the Mediterranean ist mir die Bedeutung unserer Gespräche mehr denn je bewusst.

Ich werde nie vergessen, was Demba*, eine andere Person, die ich damals auf Lampedusa kennenlernte, sagte, als ich ihm an einem Abend nach einem besonders intensiven Gespräch dankte.

“Kein Problem”, sagte er, "darüber zu sprechen, macht meinen Kopf frei.”

Diese Worte wirken bis heute in mir nach.

Durch die Arbeit des humanitären Geschichtenerzählens schaffen wir Raum für Menschen wie Lamin, Bubakar und Demba, um sich von ihrem Trauma zu befreien – um ihren Kopf frei zu bekommen, damit sie die nächste Etappe ihres Weges, ihres Lebens, fortsetzen können.

Manchmal fühlt es sich wie Schicksal an, dass ich Pamela Kerpius, die Gründerin von MotM, getroffen habe. Damals war sie auch auf der Insel und erstellte 2017 ihre eigene Dokumentation, welche die Grundlage für die heutige Organisation bilden sollte.

Vor kurzem habe ich den Kontakt zu Lamin wieder verloren, aber ich weiß, dass er sich wieder melden wird, und wenn das der Fall ist, werde ich da sein, um ihn dabei zu unterstützen, seinen “Kopf frei zu bekommen”. Denn das ist es, was wir tun, wenn wir auf die Stimmen der Menschen aufmerksam machen, die gehört werden müssen.

Du kannst Dich beteiligen, wenn Du unsere jährliche Feiertags-Spendenaktion unterstützt. Durch Deine Spende hilfst Du, das humanitäre Geschichtenerzählen und MotM am Leben zu erhalten.

Vielen Dank, dass Du bei uns warst.


*Die Namen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert