Lerne Abdul kennen

Abdul außerhalb der COA Asylunterkunft in Baexem in den Niederlanden, 16. Juni 2021. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 

Von:
Pamela Kerpius

Aufgenommen:
16. Juni 2021

Veröffentlicht:
31. Juli 2021


Übersetzung von:

Franziska Wolf



Lerne Abdul kennen.

15 Jahre alt und aus Gambia.

Um nach Europa zu kommen, durchquerte er sechs Länder: Gambia, den Senegal, Mali, Burkina Faso, den Niger, und das gefährlichste von allen: Libyen.

Seine Reise dauerte zwei Jahre. Er reiste mit einem Bus, dem Flixbus, nach Serekunda, durch den Senegal und schließlich bis zur sengalesich-malischen Grenze. Auf dem Weg gab es zahlreiche Grenzkontrollen, im Abstand von wenigen Kilometern, wie er sagte, an denen die Passagiere die Kontrolleure bestechen mussten.

Er verbrachte zwei Tage auf einem Gelände, in einem Verbindungshaus, in dem er und die anderen mit dem Fahrer blieben. Bereits zu diesem Zeitpunkt war ihm das Geld ausgegangen, denn er hatte alles, was er besaß, dem Fahrer gegeben, der seine Zahlungen an den Grenzposten verwaltete.

In Burkina Faso gab es weitere Grenzkontrollen. An einem von ihnen verbrachten sie einen ganzen Tag damit, zu verhandeln, bevor sie weiterfahren konnten. Wenn du kein Geld zum Bezahlen hast, kannst du ins Gefängnis geworfen werden, sagte Abdul, und ihm wurde in Burkina mit dem Gefängnis gedroht bevor der Fahrer sich endlich für ihn verbürgte.

Er nahm den Bus nach Naimey im Niger und blieb für einen Monat in der Stadt. Er schlief draußen vor dem Busbahnhof. Von dem Essen wurde er krank. Jemand half ihm, Medikamente aufzutreiben.

Abdul reiste weiter in die Stadt Agadez im Niger, von der er sagte, dass sie nicht sicher sei. Er blieb einen Monat in der Stadt und arbeitete als zusätzlicher Gehilfe für Schlepper und Fahrer, die Hilfe brauchten, Menschen auf die Lastwagen zu verladen, die die Wüste durchqueren sollten.

“Es war die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen”, sagte Abdul.

Abdul durchquerte die Sahara auf der Ladefläche eines Pickups mit mehr als zwanzig weiteren Menschen, darunter auch Frauen und Kinder.

“Man sieht überhaupt nichts”, sagte er über die Wüste. “Du schaust dich um, doch die Wüste endet nicht.” Es gab weder Bäume noch etwas anderes in Sichtweite. Der Wind blies heftig und war gefährlich.

Der Fahrer ließ zwei Passagiere zurück, die von der Kante des Wagens gefallen waren. “Wenn du fällst, bist du auf dich allein gestellt”, sagte Abdul. Es gab nicht genug zu essen. Er teilte sein Wasser mit den anderen um ihn herum, sodass sie überleben konnten. Die einzige andere Wasserquelle in der Wüste sind vereinzelte mit Salzwasser gefüllte Vertiefungen.

Wenn du fällst,
bist du auf dich allein gestellt…


Drei Wochen später erreichte er Tripolis in Libyen – eine ungewöhnlich direkte Route zur Hauptstadt, ermöglicht durch vorher vereinbarte Geldzahlungen an den Kontrollpunkten. Doch wie sich herausstellte, war Abduls Reise nur bis zur Stadt Sabha in Libyen bezahlt.

Die Schlepper hielten ihn fest, um ihn zurück nach Sabha zu schicken. Er wartete auf den Fahrer, der noch einmal für seine Zahlung bürgen sollte, doch dieses Mal kam der Mann nicht. Die Schlepper wollten Abdul verkaufen. Andere um ihn herum wurden ‘gehandelt’ und als Sklaven verkauft. Er wurde an eine neue Gruppe verkauft und nach Sabha gebracht.

Vier Monate lang blieb er in einer kleinen Stadt außerhalb Sabhas, bis zum Ramadan. Mehr als fünfzig Menschen lebten im Freien auf dem Gelände. Es gab nichts zu essen. Alleine machte er sich auf den Weg in eine Stadt, die er nicht kannte, um nach irgendetwas Essbarem und nach Wasser zu suchen, das er für den Tag benötigte.

Er arbeitete auf dem Gelände, um Geld für seine Rückkehr nach Tripolis zu verdienen. Gegen Lösegeldforderungen wurde er im Inneren des Lagers festgehalten. Ihm wurde ein Datum genannt, an dem er erschossen werden sollte, wenn er das Geld, das von ihm verlangt wurde, nicht auftreiben konnte. Ihm wurde ins Bein geschossen. Die Wunde blutete aus, ohne dass ihm jemand medizinische Hilfe leistete. Danach verhandelte ein Araber seine Freilassung. Die Dauer und Mittel, die zu seiner Genesung nötig waren, sind nicht bekannt.

Er schaffte es nach Tripolis und blieb dort für sechs Monate in einem Gefängnis mit mehr als 200 Insassen. Es war nicht sicher. Regelmäßig wurden Menschen überfallen.

“Weißt du, wie viele tote Menschen meine Augen sehen?”, fragte Abdul.

Die Behörden der libyschen Stadt Misrata kamen zum Gefängnis Gregara* und sagten, dass dort zu viele Migranten lebten, und dass es Zeit wäre, sie von dort wegzuschaffen und abzuschieben. Abdul wurde jedoch länger festgehalten und eingesperrt, da erneut Lösegeldforderungen gegen ihn liefen.

Als er das Gefängnis verlassen konnte, wurde er in das Küstenlager Sabrasalim* gebracht, wo er über zwei Wochen blieb. Er schlief im Freien, auf dem Boden. Nachts bissen Ratten in seine Knöchel, auf der Suche nach Resten von Reis.

Abdul überquerte das Mittelmeer zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens in einem Schlauchboot mit mehr als sechzig weiteren Personen, darunter Frauen, von denen einige schwanger waren, sowie eine unbestimmte Anzahl an Kindern und Säuglingen.

Zwei volle Tage lang war er auf dem Meer. Die See war ruhig. Trotzdem begann die Mitte des Bootes aufgrund des Druckes zu reißen. Mehr als zwanzig Menschen fielen ins Wasser. Nicht alle von ihnen wurden gerettet. Ein rotes Boot sammelte sie auf, ein deutsches Rettungsboot, wie er sagte.

Abdul wurde der Guardia Costiera übergeben und erreichte Lampedusa um 18 Uhr an einem Samstag im Juni 2017. Er ist heute 23 Jahre alt und lebt in Baexem in den Niederlanden, wo seine Geschichte am 16. Juni 2021 aufgenommen wurde.

Abdul ist ein erstaunlicher Mensch.

* Name nicht bestätigt.