Lerne anonym kennen

©Pamela Kerpius

©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 

Von:
Pamela Kerpius

Aufgenommen am:
30 November 2017

Veröffentlicht am:
Dezember 2017


Übersetzung von:
Franziska Wolf



Lerne anonym kennen.

25 Jahre alt und aus dem Bundesstaat Edo, Nigeria.

Um nach Italien zu kommen, durchquerte er drei Länder: Nigeria, den Niger und das gefährlichste von allen: Libyen.

Seine Flucht dauerte etwa sechs Monate.

Eine Woche lang war er unterwegs um vom Bundesstaat Edo an die nigerianische Grenze zu kommen. Dort durchsuchten Soldaten seine Taschen nach Drogen – eine Routinedurchsuchung, denn sie wussten, dass er im Begriff war auszuwandern. Sie ließen ihn weiter. Hinter der Grenze wurden er und 25 andere in einen Kleintransporter gesteckt und nach Agadez im Niger gebracht.

Er war zwei Nächte im Kleintransporter. Nachdem er angekommen war, verbrachte er vier Nächte versteckt in einer Unterkunft in Agadez. Er ging nicht nach draußen. Er hatte kein Essen außer die Kekse, die er sich selbst aus Nigeria mitgebracht hatte. Er gab den Frauen, die die Unterkunft betrieben, Geld, um für ihn Trinkwasser zu kaufen.

A– durchquerte die Sahara im hinteren Teil eines Pick-ups mit 26 Personen, darunter schwangere Frauen und zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge. Nach zwei Tagen hatten sie kein Wasser mehr. Sie fanden eine Senke mit verschmutztem Wasser, ihre einzige Überlebensquelle. Sie schöpften es in ihre Jacken um zu trinken.

Wir haben alle geweint
 


Ein Mann starb im Transporter. „Der Fahrer sagte, wir sollten ihn rauswerfen,” und das Auto hielt nicht an um den Mann auf dem Boden abzulegen, geschweige denn ihn zu begraben.

„Wir haben alle geweint.”

Insgesamt verbrachte er sieben Nächte in der Sahara. Er beschrieb die Hitzewellen, die die Luft vor ihm zum Vibrieren brachten. Es gibt nichts zu sehen in der Wüste. Es gibt weder Bäume noch Büsche noch Leben. “Es war leer,” sagte er. „Wir sahen ein paar Knochen,” einige menschliche Überreste, die die Hitze nicht vernichtet hatte.

Zwei Nächte wartete er in einer libyschen Stadt, einer Zwischenstation, bevor er in Sabha, Libyen ankam. Dort schliefen mehr als hundert Menschen auf dem Boden eines umzäunten Geländes. Menschen wurden dort mit Rohren geschlagen um Geld von ihnen zu erpressen. Als er und die anderen Mitreisenden aus seinem Pickup ankamen, wurden sie angewiesen, sich auf den Boden zu legen, wo sie geschlagen und ihnen ihre Taschen zur Durchsuchung abgenommen wurden. Er blieb eine Woche auf dem Gelände in Sabha. Jeden Morgen wurde er geschlagen, jeden Morgen weinte er.

A– wurde dann in das Küstenlager Sabratha gebracht, das sich außerhalb Tripolis befindet. Dort blieb er für circa zwei Monate. Seine Unterkunft - eine große Halle mit mehr als 200 Menschen darin - hatte kein Dach. Es war „schrecklich”, sagte er, und dass sich damals viele wünschten, nach Nigeria zurückkehren zu können.

In Sabratha trank er salziges Leitungswasser, wovon er Bauchschmerzen bekam. Manchmal konnte er Menschen aus Libyen dafür bezahlen, dass sie ihm abgefülltes Wasser in Flaschen brachten. Er aß eine Mischung aus Mehl und Wasser, eine so kleine Portion, dass sie auf die Untertasse eines Espressos passt, wie er es mir zeigte.

 
 
So groß war die Essensportion, die er in Sabratha, Libyen bekam. Neapel, Italien, November 2017. ©Pamela Kerpius

So groß war die Essensportion, die er in Sabratha, Libyen bekam. Neapel, Italien. 30 November 2017. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 
 


„Jeden Tag sind dort Menschen gestorben,” sagte er über das Lager in Sabratha. Menschen hatten Hautausschlag. Seine Haut juckte, denn er badete sich in Salzwasser ohne Seife oder Shampoo. Er besaß keine Zahnbürste um sich die Zähne zu putzen.

„Heute Nacht brechen wir auf,” erklärten eines Nachts die Schlepper. Sie riefen Namen von einer Liste auf und jeder Name wurde in eine separate Zeile notiert. Sie zogen Pumpen und ein Schlauchboot hervor, füllten das Boot mit Luft und A– wurde aufgefordert dabei zu helfen, das Boot ins Meer zu tragen.

„Währenddessen war mein Herz – ,” und er zeigt mit seinen Händen, wie sein Herz vor Aufregung fast aus der Brust sprang. „Ich habe einfach gebetet. Gebetet zu Gott, dass ich überlebe.”

A– überquerte das Mittelmeer in einem Schlauchboot mit 185 Personen an Bord, darunter mehrere schwangere Frauen, mindestens drei Kinder und ein Neugeborenes.

„Leute wurden ohnmächtig” auf dem Boot, erzählte er, denn sie bekamen kaum Luft, da die Menschen übereinander gestapelt waren. Insgesamt starben neun Menschen an Bord.

Wasser floss ins Innere des Bootes; es stand A– bis zum Bauchnabel. Er stand auf und das Boot schwankte. Damals sah er zum ersten Mal das Meer - vorher versperrten all die Leute um ihn herum die Sicht. Dann fing sein Herz an zu rasen. Er kann nicht schwimmen.

Er wurde zwischen 8 und 9 Uhr morgens gerettet, als ein großes Schiff näher kam und zahlreiche kleine Boote ins Wasser ließ, um ihn aufzusammeln. Sie warfen Seile zu den Flüchtenden und A– wurden über Bord gezogen und dann auf das Schiff gebracht, das zur italienischen Küstenwache Guardia Costiera gehörte, wie er sagt.

Nachdem er in Italien angekommen war, traf er seinen Freund Emmanuel (21, aus Nigeria), der mit uns im Café in der Innenstadt von Neapel saß, als A– seine Geschichte erzählte. Emmanuel erreichte Catania auf Sizilien am 24. November 2016.

Wir verbrachten den Nachmittag in Neapel, wo er nun lebt, gingen durch die Stadt und unterhielten uns. A– hat ein breites Lächeln und lachte über all meine Witze, sogar die schlechten. Ich hatte das Glück es auf Kamera festhalten zu können, damit ihr seht, was für ein großartiger Zeitgenosse er ist.

Anonym ist ein erstaunlicher Mensch.