Lernen Charles kennen

Charles at a cafe near his state housing in Viterbo, a city north of Rome, Italy. 1 December, 2017. ©Pamela Kerpius

Charles in Viterbo, Italy. 1 December 2017. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 

Von
Pamela Kerpius

Aufgenommen am:
1. Dezember 2017

Veröffentlicht am:
Januar 2018


Übersetzung von:

Hannah Holtschnieder



Lerne Charles kennen.

Er ist 32 Jahre alt und kommt aus der Provinz Edo in Nigeria.

Um nach Italien zu gelangen, durchquerte er drei Länder: Nigeria, Niger und das gefährlichste von allen, Libyen.

Seine Reise dauerte zwei Jahre: Charles verließ Nigeria am 1. April 2015 und kam am 7. Mai 2017 in Italien an.

Charles verließ Nigeria mit seiner Freundin Joy (23 Jahre alt, ebenfalls aus Nigeria). Zusammen waren sie zwei Wochen unterwegs bis sie Agadez im Niger erreichten. Dort wurden sie zwei Wochen lang in einer Zementfabrik mit 200-300 anderen Migranten unter ständiger Bewachung von bewaffneten Schleppern festgehalten.

Die Schlepper konfiszierten alle Handys. Niemand wusste genau, wo sie waren. Charles und die anderen blieben im Innern des Lagers bis sie in die Wüste aufbrachen. 

Charles durchquerte die Sahara auf der Ladefläche eines Transporters mit mehr als 20 Menschen. Die Reise dauerte zwei Wochen, aber Joy überlebte nur die erste Woche. Sie starb durch die Hitze und die Strapazen der Wüstenreise. Sie war krank und noch nicht ganz von einer Operation genesen, die vor ihrer Abreise aus Nigeria stattgefunden hatte. Sie konnte nichts essen.

Eines Morgens wachte Charles auf und fand sie tot neben sich. Er legte ihren Leichnam an den Straßenrand und deckte ihn zu; dann reiste er weiter.

„Es war die Hölle,” erinnerte sich Charles.

Skelette und menschliche Überreste waren nicht außergewöhnlich in der Wüste. Das Wasser, das er mitgebracht hatte, reichte nicht und so musste er aus dreckigen Brunnen oder Pfützen trinken. Wenn er Tote fand, suchte er sie nach Wasserflaschen ab. Das Atmen fiel ihm schwer, denn er hatte so viel Staub in der Lunge.

Auf dem Transporter waren auch fünf oder sechs Kinder. Zwei Jungen starben. Die Schlepper erlaubten ihnen, sie zu begraben, bevor sie weiterzogen. Beide Jungen stammten aus Nigeria.

Bei der Einreise nach Libyen wurde der Transporter mit allen Menschen an einen Mann verkauft, der sie für ein Jahr versklavte. Charles wusste nicht genau, wo er sich befand, weil alle Migranten während der Fahrt mit Decken und Kleidern zugedeckt worden waren, um sie versteckt zu halten.

Er kam in einem Gefangenenlager an, in dem über 100 Menschen festgehalten wurden. Frauen und Männer wurden in verschiedenen Flügeln der großen Halle untergebracht. Alle schliefen auf dem Boden. Es gab nur begrenzt Wasser. Charles durfte nur einmal im Monat baden.

Er sagte, dass er jeden Tag geschlagen oder ausgepeitscht wurde. Seine Kleider wurden ihm weggenommen und er wurde geschlagen, während seine Wärter Geld von seiner Familie zu erpressen suchten. Frauen und Männer wurden sexuell missbraucht. Sie wurden einzeln in einen Raum gerufen, vergewaltigt und herausgeworfen, wenn die Vergewaltiger mit ihnen fertig waren. 

Charles erinnert, dass sein ganzer Körper wehtat. Besonders seine rechte Schulter und sein rechter Arm waren von den ständigen Schlägen wund. Zweimal am Tag bekam er ein Stück Brot zu essen. Normalerweise gab es kein Wasser, aber wenn es welches gab, kam es in einem Plastikeimer, aus dem er eine Tasse herausfischte.

Überall war der Tod. Menschen starben jeden Tag. „Sie haben sie einfach weggeworfen,” sagte er. Es gab keine Begräbnisse.

,Ich konnte keine Prügel mehr ertragen,’
sagte er, ,selbst wenn sie uns ermorden würden,
wäre das besser als dorthin zurückzugehen.’
 


Eines Nachts, als es sehr stürmisch war, floh er aus dem Gefängnis durch einen kaputten Zaun. Der Wind hatte einen Teil des Zaunes zerstört und dadurch konnten viele Migranten fliehen. Charles und die anderen Flüchtlinge kamen unter Beschuss und einige wurden getötet.

„Ich konnte keine Prügel mehr ertragen,” sagte er, „selbst wenn sie uns ermorden würden, wäre das besser, als dorthin zurückzugehen.”

Wie er nach Tripolis kam, ist unklar. Dort wurde er von einer Familie gefangen, die ihn als Sklave auf einer Baustelle hielt. Charles sagte, dass sie ihn nicht freundlich behandelten, aber nach dem Jahr im Gefängnis war er dankbar, dass er, anstelle von Bezahlung, eine Unterkunft hatte, in relativer Sicherheit leben konnte und regelmäßig Essen bekam. Er durfte das Grundstück nicht verlassen. Er hatte keine Freiheit. Um zur Arbeit zu kommen, wurde er im Fahrzeug versteckt hingefahren.

Die Familie wusste, dass er aus Libyen heraus wollte und so brachten sie ihn eines Tages in das Küstenlager (vermutlich Sabratha, aber Charles konnte das nicht bestätigen), wo er nach einiger Zeit ein Boot bestieg.

Charles überquerte das Mittelmeer mitten in der Nacht des 5. Mai 2017. In seinem Schlauchboot waren mehr als 100 Menschen, darunter drei Kinder. Er fürchtete zu ertrinken, denn er wusste, dass dies sehr schmerzhaft ist, aber die Seefahrt war die einzige Alternative nach seiner Gefangenschaft in Libyen. Alle an Bord überlebten die Seereise.

Am Nachmittag wurde er von einem NGO-Schiff gerettet und an die Guardia Costiera übergeben. Er kam am 7. Mai 2017 in Lampedusa an.

An diesem Tag traf er seine Freunde Jeffrey (36 Jahre alt und ebenfalls aus Nigeria) und Emmanuel (24 Jahre alt und ebenfalls aus Nigeria), bevor alle drei in eine Sozialwohnung in einer Stadt eine Autostunde nördlich von Rom entfernt verlegt wurden.

Wir trafen uns eines Nachmittags im Herbst 2017 in der Stadt, um zu reden. Dann machte Charles ein Selfie von uns vier. 

Charles ist ein erstaunlicher Mensch.

 
 
(von links nach rechts) Die Autorin, Jeffrey, Emmanuel und Charles. In der Nähe ihrer Unterkunft in eine Stadt nördlich von Rom. Dezember 2017. ©Pamela Kerpius

(von links nach rechts) Die Autorin, Jeffrey, Emmanuel und Charles. In Viterbo, Italien. 1. Dezember 2017. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean