Lerne Ebrima kennen

Ebrima in Agrigento, Sizilien. 12. Februar 2019. ©Pamela Kerpius

Ebrima in Agrigento, Sizilien. 12. Februar 2019. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 



Lerne Ebrima kennen.

18 Jahre alt und aus Brikama, Gambia.

Um nach Italien zu gelangen, durchquerte er fünf Länder: Gambia, den Senegal, Mali, Algerien, und das gefährlichste von allen: Libyen.

Ebrima verließ Gambia am 3. April 2015. Er war vierzehn Jahre alt.

Innerhalb von ein paar Tagen durchquerte er den Senegal, bevor er in Bamako, Mali ankam. Dort hielt er sich auf, bevor er in einen Bus einstieg, der ihn nach Algerien brachte. Er kam in einer kleinen Stadt im Süden Algeriens an (Name nicht bestätigt), wo Rebellen mehrfach Migranten gekidnappt hatten.

Er selbst wurde zweimal verschleppt und gegen Lösegeldforderungen für insgesamt zwei Monate und 15 Tage festgehalten. Als er das erste Mal gekidnappt wurde, nahm ihn ein Mann mit zu sich nach Hause, wo er Zwangsarbeit verrichten musste. Von dort aus konnte er schließlich fliehen.

Er wurde erneut gekidnappt und zwar von einer Gruppe Männer aus Mali, die ihn nach Tamanrasset, Algerien brachten. Die Kidnapper hatten ein Mobiltelefon, mit dem sie Ebrimas Familie anriefen. Sie platzierten Elektroden an Ebrimas Händen und Beinen, wählten die Nummer und stellten den Strom an, sodass seine Familie hören würde, wie er schrie. Doch seine Familie hatte kein Geld, das sie hätte schicken können.

Er wurde in Tamanrasset für einen Monat und 12 Tage festgehalten, bevor er zusammen mit zwei anderen Migranten zu einem Busbahnhof fliehen konnte. Dort traf er einen Gambier, der ihm etwas zu essen gab, ihn notdürftig medizinisch versorgte und ihn anschließend in einen Bus nach Adrar, Algerien setzte.

Ebrima hatte Angst in Adrar. Er erinnerte sich an ein Fußballspiel zwischen Barcelona und Madrid, das er eines Nachmittags im Fernsehen sah. Es gab Rivalität zwischen den beiden Mannschaften: eine Seite schoss ein Tor und die Fans des anderen Teams feuerten Gewehre in die Luft.

Nach unbestimmter Zeit verließ er Adrar um nach Debdeb, Algerien zu gelangen.

Debdeb ist eine Stadt an der Grenze zu Libyen, durch die häufig Migranten kommen. Der Grenzübergang ist nicht einfach zu meistern, denn die Grenze ist gesichert. Deshalb schloss sich Ebrima mit anderen Migranten in einer Gruppe zusammen, um gemeinsam den erfolgreichen Grenzübergang zu planen.

Er blieb in Debdeb und arbeitete als Bäcker, um Geld für die Weiterreise zu sparen. Es gibt dort Aufenthaltslager, in denen Migranten leben und Schlepper den Grenzübergang ermöglichen. Letztendlich überquerte Ebrima die Grenze zu Libyen zu Fuß unter der Führung eines Schleppers. Es war Mitternacht, als er sich auf den Weg machte. Er duckte sich unter den Scheinwerfern, um nicht von den vorbeifahrenden Autos gesehen zu werden.

Jeden Tag hört man,
,zwei Menschen sind hier oder dort gestorben...’


Der Schlepper versprach ihm, ihn auf direktem Wege nach Tripolis zu begleiten, doch er stahl sein restliches Geld und ließ ihn in Bani Waled, Libyen zurück. Drei Monate und 15 Tage verbrachte Ebrima in einem Internierungslager mit mehr als 1.000 Menschen.

Er wurde gefoltert, litt Hunger und sah viele Menschen sterben.

„Jeden Tag hört man, ,zwei Menschen sind hier oder dort gestorben…’”

Er und die anderen Gefangenen wurden ausgezogen, mit Wasser übergossen und vor ein Hochleistungsgebläse platziert, damit sie froren. Es gab kein sauberes Wasser zu trinken, also trank er salziges Leitungswasser, das seinen Magen angriff. Es gab nur wenig zu essen. Drei Monate lang aß er jeden Tag ein kleines Stück Brot, das er in Wasser einweichte und mit Zucker bestreute. An manchen Tagen gab es gar nichts zu essen, „an manchen Tagen gab es nur Wasser”.

In einer Kolonne aus etwa fünf Pickups wurde er von Bani Waled nach Tripolis, Libyen gebracht. Auf der Ladefläche jedes einzelnen Fahrzeugs stapelten sich circa 50 Personen – sie saßen für den Transport übereinander. Das Gewicht war erdrückend, vor allem in der Hitze der Wüste. „Menschen gingen verloren”. Viele starben, sagte er.

In Tripolis lebte Ebrima in einem Transferhaus. Nach ungefähr einer Woche wurde er nach Zuwarah, Libyen gebracht, einem Küstenlager, das viele als Ausgangspunkt für die Mittelmeerüberquerung nutzen. In Zuwarah arbeitete er drei Monate, um genug Geld für die Bootsfahrt zu verdienen.

Er versuchte das Mittelmeer in einem Schlauchboot zusammen mit 120 weiteren Personen zu überqueren, darunter 15 Frauen, fünf Kinder und ein Neugeborenes, das nur zwei Tage alt war. Das Baby fiel ins Wasser, doch es wurde wieder herausgezogen und überlebte.

Die libysche Polizei fing das Boot ab, bevor es internationale Gewässer erreicht hatte, zog es zurück an Land und brachte alle in einem Lastwagen ins Gefängnis. Es hieß „Pakistan Prison”, sagte Ebrima. Der Gefängniswärter hatte aufgrund seines jungen Alters Mitleid mit ihm und nahm ihn mit zu sich nach Hause, wo er in Sicherheit war und von wo aus er arbeitete, um genug Geld zu verdienen, damit er die Meeresüberquerung erneut versuchen konnte.

Am 19. März 2019 verließ Ebrima die Küste von Zuwarah und überquerte das Mittelmeer in einem Schlauchboot zusammen mit 110 Passagieren, darunter fünf Frauen und etwa vier Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahren. Dieses Boot konnte die Küste verlassen, da die Schlepper die libysche Polizei bestochen hatten und es deshalb dieses Mal nicht dazu kam, dass das Boot aufgehalten wurde, sagte Ebrima.

Er saß auf der Kante des Bootes, ein Fuß baumelte im Wasser. Das Boot hatte ein Loch und Wasser strömte ins Innere.

Um 9.30 Uhr erreichten sie internationale Gewässer. Ein Rettungshubschrauber tauchte über ihren Köpfen auf und forderte alle dazu auf, ruhig sitzen zu bleiben.

Der Steuermann des Bootes, ein Gambier, der den Motor bediente, sowie ein Junge aus Mali, fielen ins Wasser. Sein Freund Amidou (aus Gambia, nun wohnhaft in Palermo, Sizilien) sprang  ins Wasser, um sie zu retten, doch die Strömung war zu stark. Ebrima schaute nach unten und sah Amidous Augen hervortreten. Sie waren ganz rot von all dem Wasser, dass er geschluckt hatte. Er kletterte zurück ins Boot, doch schaffte es nicht, den Gambier oder den Malier zu retten, die vor seinen Augen ertranken. Er war 13 Jahre alt.

Ein deutsches Rettungsschiff näherte sich und warf den Passagieren Rettungswesten zu. Sie blieben für einen Tag auf dem Rettungsschiff, bevor sie auf das Schiff der Guardia Costiera gebracht wurden, das Lampedusa am 20. März 2017 erreichte.

Genau vor zwei Jahren, am 3. April 2017, traf ich Ebrima an dem kleinen Hafenstrand Cala Palme in Lampedusa, wo er in Begleitung seiner Freunde Musa und Lamin war (beide aus Gambia). Er begrüßte mich und wir unterhielten uns und verabredeten uns für den nächsten Tag, um ein Interview zu führen, das die Fluchtgeschichte hervorbringen sollte, die du gerade gelesen hast. Doch am nächsten Morgen wurde Ebrima von der Insel nach Agrigento, Sizilien gebracht, wo er noch immer lebt. Wir blieben fast zwei Jahre lang per WhatsApp in Kontakt, bis wir uns am 12. Februar 2019 in Agrigento wiedersahen und endlich dieses Interview führen konnten.

Ebrima ist ein erstaunlicher Mensch.

Übersetzung von: FW

 
Ebrima (l) am Cala Palme mit seinen Freunden, 13 Tage nachdem er auf dem Mittelmeer gerettet wurde. Lampedusa, Italien; 3. April 2017. ©Pamela Kerpius

Ebrima (l) am Cala Palme mit seinen Freunden, 13 Tage nachdem er auf dem Mittelmeer gerettet wurde. Lampedusa, Italien; 3. April 2017. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean