Lerne Godstime kennen

Godstime auf dem Hof seiner Unterkunft in Middelburg, Niederlande. 8. April 2021. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 

Von:
Pamela Kerpius

Aufgenommen am
8. April 2021

Veröffentlicht am
13. Mai 2021

Übersetzung von:
Barbara Denicolò



Lerne Godstime kennen.

Er ist 26 Jahre alt und stammt aus Benin City, Nigeria. 

Er lebte mit seinem Bruder in Lagos, bevor er am 26. September 2014 Nigeria verließ. Seine Reise dauerte etwa drei Jahre.

Von Kano, einem Knotenpunkt im Norden Nigerias, fuhr er zunächst mit dem Auto los und wechselte dann auf ein Fahrrad, mit dem er bis zur Grenze zu Niger radelte. Von der Grenze aus legte er sich zugedeckt in einen Bus, in dem 10-15 andere Menschen saßen; mit diesem Bus fuhr er einige Stunden, bis er Agadez in Niger erreichte.

Godstime blieb zwei Wochen lang in Agadez in einem Lager, eingesperrt mit mehr als 100 Menschen. Er entkam, nachdem ein Menschenhändler ihn angegriffen hatte, als er versehentlich ein Mobiltelefon umstieß, das auf dem Tisch aufgeladen wurde. Der Menschenhändler schlug auf ihn ein. Er stürmte hinaus und überlebte, indem er sich bei den Menschen in seiner Nähe Essen und Wasser borgte. Es gelang ihm, in ein zweites Lager zu gelangen, wo er sich noch eine Woche lang verstecken konnte.

Godstime durchquerte die Sahara-Wüste auf dem Rücksitz eines Pickup-Trucks mit mehr als 30 Personen, darunter Frauen und Kinder. Ihre Reise dauerte zwei Wochen. Ihm ging das Wasser aus. Er war gezwungen, in eine mit etwas Öl vermischte Flasche zu urinieren und es zu trinken, um zu überleben. "Wenn man Glück hat, hat man [eine Flasche] und man kann es schaffen", sagte er. 

In der Wüste gab es Sandhügel, riesige Dünen und keine Bäume oder Büsche. Jeder in seinem Truck überlebte die Sahara, aber es gab Kontrollpunkte, die das Leben aller gefährdeten und ihn zwangen, unterwegs Geld vor korrupten Sicherheitskräften zu verstecken.

Er hatte 100.000 nigerianische Naira (etwa 200 Euro), als er aufbrach und hatte bisher 30.-40.000 ausgegeben. Sein restliches Geld war in Bündeln verpackt. Er trug Vaseline um seinen Anus auf und versteckte das Geld in seinem Körper. Er ging auf die Toilette, um das Geld herauszuholen, wenn er es für etwas brauchte. Er musste es in sich behalten, sonst hätten ihn die kleinen Jungen ausgeraubt, und manchmal wussten sie sogar, dass sie in den Körpern der Leute nach Wertsachen suchen konnten, wenn sie sich trauten.

Menschenhändler und kleine Jungs sind auf der Suche nach allem, sagte er.

Er kam in Gadron*, Libyen, an, seiner ersten Station nach der Wüste, und blieb dort für zwei Wochen. Einem Freund wurde sein Pass abgenommen, nachdem die Schlepper behaupteten, er habe nicht den vollen Betrag des Transportgeldes bezahlt. Der Freund rief seine Familie an und bat um eine Geldüberweisung, die aber nicht zustande kam - oder nicht zustande kommen konnte, weil sie nichts zu schicken hatten. 

Stattdessen bürgte Godstime für seinen Freund und bezahlte für die Freigabe seines Passes. Sie wurden beide nach Sabha in Libyen gebracht, die nächste Station auf der Reise. Er kam in einem Gebäude unter, in dem 10 Personen pro Zimmer untergebracht waren. Ein Freund im Haus half, ihn aus dem überfüllten Raum zu befreien, und er zog nach Murzuq*, an einen Ort, der eigentlich ein Prostitutionshaus war, und blieb dort für 1 Jahr und sechs Monate. 

Er fühlte sich dort nie sicher, schaffte es aber, sich durchzuschlagen, während er als Innenarchitekt und Bauarbeiter arbeitete - alles, um für den nächsten Transfer auf seiner Reise zu sparen. Es war schwer, Geld anzusparen, weil er nicht immer das bezahlt bekam, was ihm versprochen wurde. Der Besitzer des Hauses (auch sein Arbeitgeber) behauptete zum Beispiel, er habe die 300 Dinar für seinen verlängerten Aufenthalt nie vollständig bezahlt. In Wirklichkeit zahlte Godstime weit mehr als den ursprünglichen Betrag, aber da er keine Möglichkeit hatte, die Aussage des Besitzers anzufechten, arbeitete er weiter und zahlte die vermeintlichen Schulden ab.

Die Frau des Besitzers mochte ihn, was das Zusammenleben manchmal erleichterte. Sie mochte sein Tanzen und engagierte ihn gelegentlich, um für ihre Kunden aufzutreten. Aber aufgrund der wachsenden Spannungen mit seinem Chef, der dachte, er würde eine Beziehung mit seiner Frau haben, war die Situation, wie er sagt, völlig unhaltbar. 

Er fuhr in einem Auto los und zahlte dem Fahrer 600-700 Dinar für einen Transfer aus der Stadt. In drei Tagen kam zusammen mit mit mehr als 170 Menschen iin eine kleine Stadt zwischen Bani Waled und Tripolis. Er blieb zwei Wochen lang in dieser namenlosen Stadt. 

Er erinnert sich an einen ghanaischen Mann, der geschlagen und gefoltert wurde. Der Mann wurde nach Sabha gebracht und er hat nie wieder etwas von ihm gehört. Godstime vermutet, dass er selbst in den Menschenhandel verwickelt gewesen sein könnte. 

Godstime schlief auf dem Boden des Lagers. Es gab kein Essen. Es gab nur unreines, salziges Leitungswasser zu trinken. Wenn jemand etwas zu essen hatte, wurde er verprügelt, wenn er beim Teilen erwischt wurde. Zu diesem Zeitpunkt seiner Reise war seine SIM-Karte defekt und er hatte keinen Kontakt zu irgendjemandem außerhalb. 

Autoladung für Autoladung, 20, 30 oder 40 Menschen auf einmal wurden nach Tripolis gebracht. In der Hauptstadt kam er in einem Lager an, das mehr als 200 Menschen beherbergte, und blieb dort ein Jahr lang. Er schlief auf dem Boden in einem offenen Raum. Manchmal schlief er überhaupt nicht, so ungemütlich war es. Es gab kein Wasser für ein Bad. Nach draußen zu gehen war zu gefährlich, weil man von der Polizei entführt werden konnte, aber er tat es trotzdem, damit er arbeiten konnte.

Er machte Gelegenheitsjobs und arbeitete in einer Autowaschanlage. Irgendwann konnte er nicht mehr in die Waschanlage gehen, weil die Gegend zu unsicher war. Stattdessen wurden Straßenecken eingerichtet, an denen sich die Migranten versammelten und für die Arbeit anstellten. Der Ort, zu dem er ging, befand sich unter einer Brücke, wo irgendwelche Arbeitgeber ankamen, um Leute für den Tag einzustellen. Manchmal kehrten die Leute nicht von der Arbeit zurück.

Drei junge Männer, sagt Godstime, wurden eines Tages entführt, an ein Fass gebunden, mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt. Alle waren nigerianische Männer. Nur einer überlebte. 

Er zog in das Küstenlager Sabratha, wo er weitere 9 Monate blieb. Er hatte das Glück, in einem schäbigen Wohnkomplex unterzukommen und musste Schmugglern 1.000 Dinar für den Platz bezahlen. Arbeiten konnte er nicht. Er saß in der Falle, sagt er, während die Schleuser in seiner Nähe weitere Zahlungen verlangten, auch wenn die Leute bereits bezahlt hatten. 

Er zog auf einen offenen Platz am Meer. Er sagt, dass dort regelmäßig Frauen vergewaltigt und belästigt wurden. Die erste Nacht am Meer verbrachte er im Regen. Bei Tagesanbruch machte er sich auf die Suche nach Material für ein Zelt, wurde aber gekidnappt. Ein Freund, der bei ihm war, schlug die Scheibe des Autos ein und entkam, aber Godstime hatte nicht so viel Glück.

Es wäre besser für mich gewesen
zu sterben, anstatt so kämpfen zu müssen.
 


Er hatte kein Geld mehr und wurde gegen Lösegeld festgehalten. Also rief er einen Freund in Nigeria an, der ihm Geld überweisen sollte, was zum Glück auch gelang. Andere Menschen um ihn herum litten. Ein Mann wurde bis zur Verunstaltung verprügelt. "Sie haben ihm fast die Augen entfernt, so hart schlugen sie ihm ins Gesicht", sagte er.

"Es wäre besser für mich gewesen, zu sterben, als so zu kämpfen", erinnert er sich an das libysche Gefängnis. 

Als er herauskam, fand er wieder Arbeit in einer Autowaschanlage und nutzte das Geld, um den letzten Schritt seiner Reise zu machen. Ein Taxi brachte ihn zum Lager am Meer. Ein Boot war bereits abgefahren. Es war nicht klar, ob er das nächste schaffen würde. Er flehte den Schlepper an, ihn gehen zu lassen.

Godstime überquerte das Mittelmeer auf einem Schlauchboot Ende Juli 2017 nach Mitternacht, zusammen mit 120-125 Menschen, darunter neun oder zehn Frauen, von denen einige schwanger waren, und Kindern.

"Wir erreichten das blaue Meer um 6:00 Uhr morgens", sagte er, das Signal, dass er internationale Gewässer erreicht hatte. Er wurde von einem deutschen Rettungsschiff gerettet, das seiner Meinung nach von Sea Watch betrieben wurde, und blieb drei Tage lang an Bord, zusammen mit vielen anderen, die von separaten Rettungsschiffen aufgenommen wurden. 

Er landete irgendwann zwischen dem 26. und 29. Juli 2017 in Agrigento, Sizilien. Er ist jetzt 30 Jahre alt und lebt in einem Wohnlager in Middelburg, Niederlande, wo wir diese Geschichte im April 2021 aufgenommen haben.

Godstime ist ein erstaunlicher Mensch.

* Der Name der Stadt konnte nicht bestätigt werden.

Übersetzung von: BD