Lerne Habz kennen

Habz (Mitte) auf Lampedusa, Italien, 5. April 2017.

Habz (Mitte) auf Lampedusa, Italien, 5. April 2017. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 



Lerne Habz kennen.

20 Jahre alt und aus Gambia.

Um nach Italien zu kommen, durchquerte er fünf Länder: Gambia, den Senegal, Mali, Algerien und das gefährlichste von allen, Libyen. 

Er verließ Gambia am 15. Dezember 2016. Seine Reise dauerte circa drei Monate. Seine Route verlief nicht wie die vieler anderer aus Westafrika über Agadez im Niger, sondern durch die algerische Wüste. 

Von einem namenlosen Ort in Algerien aus durchquerte Habz die Sahara auf der Ladefläche eines Pickups zusammen mit 15 weiteren Menschen. Die Fahrt dauerte eine Woche. Zu seiner Karawane gehörten zwei Fahrzeuge: das, in dem er fuhr, sowie ein weiteres, in dem sich viel mehr Menschen befanden, darunter auch Frauen und Kinder. Er hatte genug Wasser für die Fahrt dabei, doch musste er seinen Vorrat mit Passagieren aus dem anderen Fahrzeug teilen, die nicht genug dabei hatten.

Er erinnert sich an Kontrollpunkte in der Wüste. An einem dieser Kontrollpunkte ließen seine Schlepper die Passagiere über Stunden im Sand ohne Schatten warten. Nach drei Stunden dachte er, dass er nicht überleben wird und dass seine Schlepper ihn zum Sterben zurückgelassen hatten. 

Nach vier Stunden kamen sie mit einem neuen Fahrzeug zurück und schossen mit Pistolen in die Luft, um Habz und den anderen Passagieren Angst zu machen. Einer der Passagiere sprach Arabisch und konnte mit den Schleppern verhandeln. Sie stiegen in das Auto und die Fahrt ging weiter.

Das Fahrzeug hielt nicht, außer wenn die Fahrer zur Toilette gingen. Er schlief nicht, sagte Habz. Das war nicht möglich bei all dem Stress in der Wüste und den ständigen Erschütterungen im Pickup.

Ein senegalesischer Mitfahrer fiel seitlich aus dem Fahrzeug. Er fiel rücklings und landete auf seinem Hals, der blutete, als das Auto umkehrte, um ihn wieder einzusammeln.

Um 6 Uhr morgens kam Habz in einer kleinen namenlosen Stadt in Libyen an und wurde in einem Lager versteckt. Um 8 Uhr morgens wurde er befreit und wieder in ein Auto gestopft, um seine Reise nach Sabha fortzusetzen. Das Auto war kleiner als die Ladefläche des vorherigen Pickups und seine Schlepper drängten die Menschen dicht aneinander gepresst in das Wageninnere. Einer schlug Habz mit dem Griff seines Gewehres gegen das Knie. Manche befanden sich zwischen den Beinen der sitzenden Passagiere. Wieder andere wurden in den Kofferraum gesteckt.

Die Schlepper versuchten auch Habz in den Kofferraum zu sperren, doch er übergab sich, denn der Stress und die schlechte Wasserqualität hatten ihn krank gemacht. Er konnte sie überzeugen, ihn sitzend im Inneren des Autos mitfahren zu lassen. An seiner statt wurde sein Freund in den Kofferraum gebracht.

Er hatte ausschließlich Kekse und Wasser, um zu überleben. In Sabha blieb er in einem offenen Wohnblock, in dem sich mehr als 30 Menschen befanden. Manche blieben für Tage, andere für Monate – je nachdem wie viel Geld sie hatten. Je mehr Geld jemand hat, desto schneller kann die Reise weitergehen.

Habz blieb für eine Woche, doch er sah, wie andere unter gewaltvollen Umständen dort gehalten wurden. Manche leisteten Zwangsarbeit, andere wurden festgesetzt und gefoltert, um Lösegeld zu erpressen. Wieder andere arbeiteten auf dem Gelände selbst, sie kochten und putzten, um genug Geld für den nächsten Abschnitt ihrer Reise zu verdienen.

Alle schliefen auf einer Decke oder einer Matte auf dem Boden. Frauen und Kinder wurden von den Männern getrennt und hielten sich in einem separaten Raum auf. Frauen wurden vergewaltigt. Wenn sie sich wehrten, wurde ihnen mit dem Tod gedroht.

In Sabha sah er Körper in den Straßen liegen. Niemals zuvor hatte er so etwas gesehen, er hatte Angst und war traurig und dachte zum ersten Mal daran, dass es ihm besser ginge, wenn er nach Gambia zurückkehrte. Doch an diesem Punkt der Reise ist es so schwer gegen den Strom des Menschenhandels anzugehen, dass es einfacher ist, weiter in Richtung Meer zu reisen, als die Schlepper davon zu überzeugen, zurückzufahren, so Habz.

Während der ganzen Zeit trank er nur verunreinigtes Leitungswasser, das salzig schmeckte und ihn krank machte. Er hatte schrecklichen Hunger und brauchte nahrhafteres Essen, um zu überleben. Also aß er seine ersten Bissen gekochter, trockener Nudeln, die ihm gebracht wurden, doch davon musste er sich übergeben.

Er verließ Sabha im hinteren Teil eines riesigen Lasters - mehr als 20 Menschen befanden sich dort drin, doch zumindest gab es ein Dach, dass sie vor der Sonne schützte. Zwei Tage lang machten sie Pause in einer kleinen namenlosen Stadt, dann ging es weiter Richtung Tripolis zu einem Anschlussort.

Habz verbrachte einen Monat zusammen mit mehr als 40 anderen in einem Haus, das als Anschlussort diente. Diese Leute wurden gegen Lösegeldforderungen festgehalten, ähnlich derer, von denen wir bereits gehört haben. Sie wurden aufgefordert, ihre Familienmitglieder vom Handy des Schleppers aus anzurufen. Bevor sie per Telefon um Geld baten, wurden sie verprügelt. Habz erinnert sich, wie er kreative Wege fand, um sein Geld vor den diebischen Schleppern zu verstecken. Er schnitt Löcher in seine Kleidung oder in das Futter seiner Schuhe, um dort heimlich Bargeld aufzubewahren.

Wie überall in Libyen gab es fast nur salziges Wasser zu trinken, wovon er in dieser Zeit überleben musste. Einmal in der Woche kam eine Lieferung mit in Flaschen abgefülltem Wasser und die Menschen sammelten die Flaschen, um sie wieder aufzufüllen, sobald der Vorrat aufgebraucht war. Ihm war die ganze Zeit schlecht, doch zum Glück hatte er ein paar Medikamente, die er unterwegs besorgt hatte, um die Schmerzen zu mildern.

Er kam in ein Küstenlager in der Nähe von Sabratha, das er “das weiße Haus” nannte: ein ehemaliges libysches Militärcamp. Um nicht von den Beamten gesehen zu werden, die auf der Suche nach Migranten waren, schlief er im Inneren. Doch von draußen schossen Schlepper auf das Haus, um allen im Inneren Angst zu machen. Habz blieb einen Monat lang dort und wartete, dass das Wetter besser werden würde, damit das Meer ruhig genug für eine Überfahrt wäre.

Habz überquerte das Mittelmeer am 18. März 2017 um 11 Uhr nachts zusammen mit 30 anderen in einem kleinen Schlauchboot, darunter vier Frauen und drei Babys. Er war 13 Stunden lang auf offener See, verloren irgendwo in internationalen Gewässern, bevor ein deutsches Rettungsboot kam.

Einen nach dem anderen zogen die deutschen Seenotretter jeden einzelnen Passagier an Bord und in Sicherheit. Es war der 19. März 2017. Während der Nacht fuhren er und die anderen Geretteten auf dem Deck des Bootes direkt nach Italien. Habz erreichte Lampedusa am 20. März 2017.

Wir trafen Habz 14 Tage nach seiner Rettung auf der Via Roma auf Lampedusa. Das war am 3. April 2017. Wir verabredeten uns, seine Geschichte direkt in den nachfolgenden Tagen aufzunehmen, doch bevor es dazu kam, wurde er von der Insel gebracht. Wir blieben in Kontakt bis wir uns zum ersten Mal nach beinahe vier Jahren in Middelburg in den Niederlanden wiedersahen, um dort seine Geschichte aufzuzeichnen.

Habz ist ein erstaunlicher Mensch.

Übersetzung von: FW

Habz in Middelburg, Niederlande. 31. März 2021. ©Pamela Kerpius

Habz in Middelburg, Niederlande. 31. März 2021. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean