Lerne Matarr kennen

Matarr in Termoli, Italien. 30. April 2021. ©Pamela Kerpius

Matarr in Termoli, Italien. 30. April 2021. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 

Von:
Pamela Kerpius

Aufgenommen am
30. April – 1. Mai 2021

Veröffentlicht am
2. Juli 2021



Lerne Matarr kennen.

Er ist 27 Jahre alt und aus Gambia.

Um Europa zu erreichen, durchquerte er sechs Länder: Gambia, Senegal, Mali, Burkina Faso, Niger und das gefährlichste von allen, Libyen.

Seine Reise dauerte neun Monate. Er verließ seine Heimat in einem Auto an einem Donnerstag um 17:00 Uhr im September 2013. Nachdem er die Hauptstadt, Banjul, erreicht hatte, bestieg er eine Fähre von Banjul in eine andere Stadt. Danach ging es in einem Taxi weiter zur senegalesischen Grenze. 

In dem Auto waren sieben Passagiere, zwei waren Matarrs Freunde, die ihn überzeugt hatten, seine Heimat zu verlassen. Er reiste in einem weiteren Taxi von Senegal nach Mali und dann nach Burkina Faso. Diese Fahrt dauerte eineinhalb Tage. Es war eng in dem Auto, das für sieben Passagiere gebaut war, denn die Gruppe bestand aus acht Menschen.

Es gab viele Kontrollen auf dem Weg, doch hier half es, dass Matarr Französisch spricht, so dass er mit den Autoritäten verhandeln konnte. Letztendlich zahlte er die Schmiergelder, die verlangt wurden, und er und der Rest der Gruppe wurden freigelassen.

Insgesamt waren es 11 oder 12 Kontrollen. Er war vor seiner Abreise davor gewarnt worden, und man hatte ihm geraten eine ganze Reihe laminierter Kopien seines Ausweises mitzunehmen. Sicherheitsleute an den Kontrollpunkten konfiszieren die Pässe und Ausweise  und verlangen höhere Schmiergelder, aber wenn Reisende den Originalausweis versteckt halten und die Fälschung vorzeigen, ginge  es schneller und kostete weniger. Matarr hatte 11 Fotokopien bei sich.

Als er sah wie ein Ausweis nach dem anderen an die Sicherheitsleute abgegeben wurde, wurde ihm klar, dass die Migranten ein Geschäft für alle Beteiligten waren. “Die Schmiere kann schon in Gambia beginnen, wenn die [Autoritäten dort] die Ausweise sehen”, sagte er. 

Matarr versteckte die laminierten Dokumente in seinen Schuhsohlen.

Manchmal dachte er, dass es einfacher wäre nach Gambia zurückzukehren, aber er würde  mit großen Schamgefühlen kämpfen , wenn er das getan hätte. Er musste um jeden Preis  aus Gambia weg. Das motivierte ihn weiterzureisen.

Auf der Durchreise durch Burkina Faso gab es wieder einige Kontrollen und Haltepunkte, um das Auto zu wechseln. Eine Frau in der Gruppe sprach die örtliche Sprache gut und verhandelte mit den Autoritäten, so dass sie zur Weiterreise freigelassen wurden. Einmal blieb Matarr drei Tage in einem Lager irgendwo in Burkina und schlief unter freiem Himmel auf einer Matte. “Das war so wie ein Hotspot,” sagte Matarr. Er benutzte hier das umgangssprachliche Wort für die Aufnahmezentren in Italien. Nach seiner Schätzung waren mehr als eintausend Menschen in diesem Lager.

‘They all know,’ said Matarr, everyone is
aware of the flow of people to exploit...
 


Von Burkina Faso aus ging es weiter nach Niamey, Niger. Die Fahrt erfolgte in einem Taxi, das wiederum acht Passagiere hatte, obwohl es nur für sieben gebaut war. Dort blieb er ca. einen Tag, bevor er nach Agadez kam und dort eine Woche verweilte.

In Agadez werden Migranten von Ortsansässigen angesprochen, die ihnen Unterkunft gegen Bezahlung versprechen. “Die wissen das sofort”, sagte Matarr, denn alle sehen die ständige Durchreise von Menschen, die sie für Geschäfte ausbeuten können.

Letztlich nahm er das Angebot eines Gambiers an, der schon mehr als dreißig Jahre in Agadez lebte. Dieser Mann hieß Akon und kannte viele Schlepper. Er selbst war schon nach Italien gereist, aber als er deportiert wurde, war er nach Agadez zurückgekehrt, um Migration zu seinem Geschäft zu machen. 

In der Stadt fand Matarr 17 weitere Menschen, mit denen er einen Lastwagen bestieg, um die Wüste zu durchqueren. Matarr durchquerte die Sahara auf der Ladefläche eines Transporters mit 23 Menschen. Diese Reise dauerte drei oder dreieinhalb Tage. Um zu überleben, aß er Garri, das vor der Abreise einfach auf dem Markt zu beschaffen war. Garri ist ein getrocknetes Wurzelgemüse, das gekörnt verkauft wird. Mit Wasser aufgekocht ist es ein beliebtes Essen in Westafrika.

Auf dem Boden des Transporters waren literweise Wasserflaschen gestapelt. Auf diesen saß Matarr. Im Boden waren auch Stöcke  eingelassen, damit man sich auf der holprigen Straße festhalten konnte. Matarr fiel einmal von der Ladefläche , aber er überlebte. 

Der Fahrer war betrunken oder oft high von Marihuana. Matarr sagte, “Diese Fahrer sind selbst schon tot. Sie wollen uns auch töten.” Tagsüber  war es heiß, aber in der Nacht war es kalt. Eines Nachts verbrannte er seine Jacke, um warm zu bleiben. Er sah Tote in der Wüste. Am Straßenrand waren viele Menschen, die um eine Mitfahrgelegenheit bettelten, nachdem ihre eigenen Transporter verunfallt waren. 

“Ich dachte, dies sei der letzte Tag meines Lebens”, sagte Matarr, als er beschreibt, wie der Fahrer in der Wüste plötzlich auf die Bremse tritt und Schüsse aus den Gewehren örtlicher Rebellen kommen. Matarr und die anderen Passagiere rannten weg, aber der Fahrer rief sie zurück. Es stellte sich heraus, dass der Schlepper sie von den in der Dunkelheit verborgenen Schützen beschützte. 

Bayyah in Libyen war sein erster Halt im Land, und er blieb dort für zwei Tage in einem Lager, um zu essen und sich auszuruhen. Von dort waren es ca. dreißig Autominuten bis Sabha, seinem nächsten Stopp. Er machte die Reise mit acht Menschen in einem Pickup. Der Fahrer schützte sie bei den Kontrollen, in dem er sie alle als seine Angestellten ausgab.

Er blieb ungefähr zwei Monate in Sabha und wohnte in einem verlassenen Gebäude, das, so denkt er, ein ehemaliges Gefängnis der Gaddafi-Jahre war. Er hatte Essen, aber sein Geld ging schnell zuneige. Wieder fühlte er sich gedrängt nach Gambi zurückzukehren, aber an diesem Punkt sagte er, “Ich kann nicht zurückgehen.”

Er arbeitete als Maurer und Anstreicher, um Geld zu verdienen. Er wollte Sabha schnell verlassen, aber weil er nur 15% des versprochenen Lohns bekam, musste er länger in der Stadt bleiben. Ein benachbarter Stamm  übernahm das Haus, in dem er wohnte und sofort kam die Gewalt. Sie warfen Bomben in den Bereich des  Gebäudekomplexes und feuerten Schusswaffen. Matarr erinnert sich, dass Kugeln die Wände trafen. 

“Wir alle machten uns Sorgen, weil wir keine Waffen hatten”, sagte er, “wir wissen noch nicht einmal, wie man schießt.” Seine Schlepper bestanden darauf, dass er im Haus blieb. Menschen wurden angeschossen und fielen auf den Boden.

Menschen flohen. Einer wurde mit einem Beinschuss zurückgelassen. Die Gruppe bestand aus Gambiern und Guineaern und vielen anderen Nationalitäten. Matarr fand eine Übergangsunterkunft und teilte eine Mahlzeit mit den anderen Migranten. Dann kontaktierte er mit dem Handy wieder seine Schlepper; diese versprachen ihm, ihn abzuholen.

Die Gruppe bewegte sich zu Fuß zu dem Ort, an dem sie abgeholt werden sollten. Auf diesem Weg wurden sie angehalten und von anderen Dieben oder Rebellen mit Schüssen an ihre Füße erschreckt und mit dem Tode bedroht. Wieder dachte Matarr, dass dies bestimmt der letzte Tag seines Lebens sei. Er hob die Hände hinter seinen Kopf.

Durch einen glücklichen Zufall war der Sohn des Mannes, der ihn als Anstreicher angestellt hatte, in der Gruppe der Angreifer. Er erkannte Matarr und sagte den Rebellen, dass sie ihn und die anderen freilassen sollen. Sie wurden freigelassen und sie fanden den Treffpunkt, an dem ein Pickup ihn mit 19 Menschen nach Tripolis in Libyen brachte. Sie waren ungefähr eineinhalb Tage unterwegs; die Reise dauerte so lange, da die Schlepper aufgrund der Kontrollpunkte auf dem Weg viele Umwege machten.

30 Minuten bevor sie Tripolis erreichten, hielten sie wieder an, um in ein anderes Auto umzusteigen, damit ihre Sicherheit gewährleistet war.

Matarr blieb fünfeinhalb oder 6 Monate in Tripolis. Er arbeitete wieder als Maurer und Anstreicher, um Geld zu verdienen. Es war nicht sicher, sagte er, aber es war besser als in Sabha. Er nahm nur Arbeit von Leuten an, die direkt in das Lager kamen, nicht an der Straßenecke, wo Menschen regelmäßig gekidnappt wurden.

Oft wurde er mit Essen anstatt von Geld bezahlt. Arbeitgeber versuchten ihn zu überzeugen, dass es in Libyen mehr Essen gab als in Italien, so dass Bezahlung in Essen ein Vorteil für die nächste Etappe der Reise sei. 

“Das haben sie uns erzählt,” lachte Matarr, “dass es kein Essen in Italien und in Europa gibt, und dass es uns in Libyen besser geht.”

“Du musst diese Leute einfach reden lassen,” sagte er, “Sie sind nicht sehr stark. Sie haben Pistolen, so dass sie einen erschießen können.”

Er war auf der Arbeit, als sein Lager in Tripolis angegriffen wurde. “Ich hatte Glück,” sagte Matarr. Eine Woche später hatte er den Schleppern das noch ausstehende Geld gezahlt, damit er an die Küste reisen konnte. Diese Schlepper arbeiten direkt mit der libyschen Marine oder mit dem Grenzschutz auf dem Meer, sagte er. Er sah, dass alle Schmiergelder bekamen, um die Weiterreise möglich zu machen.

Dann wartete er und arbeitete in der Zwischenzeit, bis er Nachricht bekam, dass das Boot bereit war. Am nächsten Nachmittag wurde er in einem Auto transportiert; er war unter einer Plane versteckt. Es gab zwei Kontrollpunkte; beim zweiten wechselte er das Auto.

Sechs Boote warteten, als er in Sabratha ankam, und ca. 600 Menschen warteten in einem Lager. Die Türen wurden aufgestoßen und die Schlepper fingen an Namen auszurufen. Wenn 120 oder 130 aufgerufen waren, schickten die Schlepper sie los.

Matarr war nicht in den beiden ersten Gruppen, aber er war an der Spitze der dritten, gleich bei der Tür. Er musste das Boot aufpumpen. Er sah, dass sich Hubschrauber und Patrouillenboote an der Küste aufhielten und wusste, dass die libyschen Autoritäten mit den Schleppern zusammenarbeiteten, damit die Boote in See stechen konnten. Es wurde immer ein Boot für die Abendnachrichten fotografiert - ein gestellter Stunt, um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass Libyen ihre Migrationsregeln geltend macht. An diesem Tag wurden drei der sechs Boote eingefangen.

Matarr überquerte das Mittelmeer in einem Schlauchboot um Mitternacht am 8. Juni 2014 zusammen mit 106 Menschen, darunter zwei Frauen und ein paar Senioren.

“Es war traurig zu sehen, dass Senioren die Überfahrt versuchten,” sagte er. 

Es gab ein GPS Handy und einen Kompass; diese wurden von einer Person kontrolliert, dem “Kapitän”. Es war immer ein Migrant, der für diese Rolle ausgebildet wurde, so dass dieser Lehrling dann umsonst mitfahren konnte. Der Kapitän durfte auch einen Freund umsonst mitbringen.

Gegen 5.00 Uhr erreichten sie internationale Gewässer. Sie riefen die italienischen Autoritäten um Hilfe. Sie sagten, dass sie bald ankommen würden und alle an Bord jubelten. Es gab eine Verzögerung. Italien sagte, dass sie auf dem Weg seien, aber dass sie das Boot nicht finden könnten. Sie baten den Kapitän weiterzufahren und einen bestimmten Kurs einzuhalten. Der Treibstoff war zu dem Zeitpunkt jedoch bereits ausgegangen, und der Kapitän hat den Kurs falsch kalkuliert. 

Sie sahen ein großes Schiff am Horizont, und Matarr und die anderen Passagiere sandten Signale, aber das Schiff hielt sich auf Distanz. Ein anderes Boot erschien und kam letztlich zu ihrer Rettung: es warf ein Tau aus, mit dem die Boote zusammengebunden werden konnten.

Das andere Boot bat die Passagiere, die Ruhe zu bewahren. Die Menschen brachen trotzdem vor lauter Angst in Panik aus. Es war jetzt dunkel. Vier bis sechs Menschen fielen aus dem Boot und Matarr sah, wie sie im Meer versanken. Er kann schwimmen, und er kalkulierte die Distanz, sprang ins Wasser und rettete einen der Senioren. (Ein Jahr später wurde dieser Mann in Italien von einem Auto erfasst und getötet.)

Matarr wurde an die Guardia Costiera übergeben und ging am 10. Juni 2014 in Ragusa, Sizilien an Land. Er ist jetzt 34 Jahre alt und lebt in Termoli, Italien, wo wir diese Geschichte amd 30. April und am 1. Mai 2021 aufgezeichnet haben.

Matarr ist ein erstaunlicher Mensch.

Übersetzung von: HH