Lerne Sarjo kennen

Sarjo (Gambia) in Tarragona, Spanien. 21. Januar 2022. ©Megan Lloyd/Migrants of the Mediterranean

 

Von
Megan Lloyd

Aufgenommen am:
21. Januar 2022

Veröffentlicht am:
28. Februar 2022

Übersetzung von:
Franziska Wolf



Lerne Sarjo kennen.

17 Jahre alt und aus Gambia.

Um nach Europa zu kommen durchquerte er sechs Länder: Gambia, Senegal, Mali, Burkina Faso, Niger und Libyen.

Seine Reise dauerte etwa sechs Monate. Sie begann im Juni 2015. Er erinnert sich, dass gerade Ramadan war.

Er nahm einen Bus von Gambia in den Senegal und von dort aus nach Niger. Dabei reiste er durch Mali und Burkina Faso. Manchmal musste er warten, bis der Bus komplett voll war, bevor er die nächste Etappe der Reise antreten konnte.

Auf dem Weg gab es viele Zwischenstopps und während der Pausen schliefen er und die anderen Passagiere draußen auf dem Boden. In Mali schlief er vier Nächte im Freien, mit nichts als seiner Jacke bedeckt.

Es dauerte drei Wochen, um von Gambia nach Niger zu kommen. In Niger war sein erster Halt Agadez, wo er drei Tage blieb.

Sarjo durchquerte die Sahara an Bord eines Pickups zusammen mit 26 bis 36 weiteren Männern. Es waren zu viele Leute im Auto. Manche schrien: “Mein Bein, mein Bein!”  So sehr drückte es auf ihre Glieder. Ein Mann fiel aus dem Auto und alle im Wagen schlugen gegen die Karosserie, damit der Fahrer anhalten und umkehren würde. Die Wüstendurchquerung dauerte fünf Tage.

Der Pickup brachte ihn nach Bayyah* in Libyen, wo er etwa einen Monat lang in einem Wohnlager mit anderen Männern aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern lebte. In diesem Lager gab es keine Frauen, doch er sah Frauen und Kinder aus anderen Lagern in Bayyah.

Er rief seine Familie an und bat um Geld, damit er für seine Weiterreise bezahlen konnte.

In Bayyah musste er in die Stadt gehen, “um seltsame Menschen zu treffen, die ihm Arbeit geben konnten”, wie er sagte. Um Arbeit zu suchen, ging er zu Straßenkreuzungen in der Stadt, sodass er für die Unterkunft bezahlen, Essen kaufen, seine Reise fortsetzen und letztlich überleben konnte.

Manche schrien: “Mein Bein, mein Bein!”
So sehr drückte es auf ihre Glieder.


Er arbeitete zum Beispiel als Reinigungskraft. Als er das Geld für die Schlepper beisammen hatte, fuhr er in einem anderen Pickup ins libysche Sabha. Die Schlepper bezahlten Leute, die ein Auto hatten, um Migranten wie Sarjo zu transportieren. Er stieg ins Auto und es ging los. Die Fahrt dauerte ungefähr sechs Stunden.

In Sabha verbrachte er zwei Tage in einem Lager mit 35 weiteren Personen. Er sagte, dass es in Libyen Wasserstellen in den Straßen gab, von denen man kostenlos trinken konnte, denn das Wasser kam aus öffentlich zugänglichen Leitungen.

In einem weiteren Pickup fuhr er mit etwa zehn anderen nach Tripolis, was circa zwei Tage dauerte. Die Fahrer fuhren sehr schnell und er fühlte sich nicht sicher. “Man riskiert sein Leben, wenn man sagt, dass man mitfahren will”, sagte Sarjo.

Er traf viele Menschen, die seit zwei oder drei Jahren in Libyen festsaßen und es nicht schafften, das Land zu verlassen. Diese Leute zahlten Geld an die Schlepper, doch sie wurden oft betrogen. Der Schlepper nahm das Geld und verschwand, wie Sarjo erzählte: “Das kann man nicht verstehen, wenn man nicht selbst dort war.”

Er sagte insbesondere, dass es dort Männer gab, die in die Stadt kamen und in Hotels übernachteten, wo sie vorgaben, anderen bei der Überfahrt zu helfen. Sobald sie dann bezahlt worden waren, verschwanden sie aus der Stadt und die Migranten waren ihr Geld los.

“Manchmal zahlen die Leute und werden im Stich gelassen. Aber du kannst ja nicht die Polizei rufen. Überall ist Korruption. Selbst die Polizei macht ihre eigenen Geschäfte”, sagte Sarjo.

Ousman, sein Freund aus Gambia, ist nach circa sechs Jahren immer noch in Libyen. Jedes Mal, wenn er einen Schlepper bezahlt, der ihm dabei helfen soll, das Meer in Richtung Europa zu überqueren, wird er bestohlen. “Es ist ein riesiges Geschäft”, wie er sagt, doch sein Freund gibt nicht auf.

“Ich hatte Glück. Sehr viel Glück”, sagte Sarjo.

In Tripolis wohnte er einen Monat und drei Wochen in einem großen überdachten Gebäudekomplex. Er sah viele Lager mit 1.000 bis 2.000 Bewohnern in der Stadt. Er schlief auf einer Decke oder einer Matte auf dem harten Boden. Er hatte Glück, dass er Zugang zu einem Badezimmer hatte.

Auch hier gab es Wasserhähne für Trinkwasser in den Straßen. Er fühlte sich jedoch nicht sicher, wenn er raus ging, um Essen zu besorgen. Es gab Messerstechereien und Menschen wurden erschossen oder auf dem Weg zum Einkaufen bestohlen.

Seine Miete betrug 20 Dinar pro Monat. Deshalb musste er eine Arbeit finden. Ousman, sein Freund aus Gambia, der noch immer in Libyen ist, besorgte ihm einen Job. Sarjo verkaufte nun große Kanister gefüllt mit Saft und Limonade an Geschäfte.

In seinem Wohnblock in Tripolis lebten Männer, Frauen und Kinder. Er erzählte, dass manchmal libysche Männer betrunken ins Lager kamen und Frauen vergewaltigten. Er sah, wie Frauen auf der Straße Sexarbeit nachgingen, um Geld zu verdienen. Andere Formen der Arbeit waren ihnen nicht erlaubt. In der Gegend gab es viele Bordelle.

Eines Nachts machte unter den Bewohnern des Lagers in Tripolis das Gerücht die Runde, dass Einbrecher auf dem Weg zu ihnen waren. Die Menschen versuchten zu fliehen. Sarjo sprang über einen hohen Zaun und blieb daran hängen. Am Ende konnten alle sicher ins Gebäude zurückkehren. Noch heute hat er eine große Narbe auf seiner Brust, dort wo er sich am Zaun die Haut aufgerissen hat. Damals hatte er zu große Angst, zum Arzt zu gehen, denn auf den Straßen war es gefährlich.

Wenn jemand aus dem Lager angeschossen oder verwundet wurde, halfen die anderen Bewohner so gut es ging, denn ins Krankenhaus zu gehen war keine Option. Falls sie ins Krankenhaus gegangen wären, hätten sie weitere Verletzungen erleiden oder ins Gefängnis gebracht werden können.

Sarjo überquerte das Mittelmeer in einem großen Boot aus Holz um 12 Uhr Mitternacht am 25. November 2015 mit circa 450 weiteren Menschen, darunter auch Frauen und Kinder. Viele von ihnen kamen aus Somalia, Nigeria, Eritrea und vermutlich auch aus Marokko und Libyen.

Er war einer der ersten, die das Boot betraten und er saß ganz unten, unter Deck. Während der Nacht konnte er eine Weile schlafen. Er hatte Angst. Doch diejenigen, die sich oben, über Deck befanden, hatten noch mehr Angst. Er konnte ihre Schreie und Gebete hören. Die Menschen wandten sich an Gott. Auch er betete.

“Du musst einfach beten. Du weißt ja nicht, wo es hingeht”, sagte Sarjo.

Nachmittags, gegen 16:30 Uhr, begann ein Hubschrauber über dem Boot zu kreisen und um 17 Uhr kam ein Rettungsboot, das ihn und die anderen an Bord nahm. Sarjo erreichte die Stadt Messina auf Sizilien am nächsten Morgen. Es war der 27. November 2015.

Heute ist er 23 Jahre alt und lebt in Tarragona in Spanien, wo wir seine Geschichte am 21. Januar 2022 aufgenommen haben.

Sarjo ist ein erstaunlicher Mensch.


*Name nicht verifiziert