Lerne Wisdom kennen

Wisdom in Frosinone, Italien. 7. Mai 2021 ©Pamela Kerpius

Wisdom in Frosinone, Italien. 7. Mai 2021 ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 

Von:
Pamela Kerpius

Aufgenommen am
7. Mai 2021

Veröffentlicht am
24. Juni 2021



Lerne Wisdom kennen.

Er ist 20 Jahre alt und kommt aus Nigeria.

Um Italien zu erreichen, durchquerte er drei Länder: Nigeria, Niger und das gefährlichste von allen, Libyen.

Seine Reise dauerte ungefähr eineinhalb Jahre, nachdem er am 15. September 2015 seine Heimat mit sechs Menschen in einem Taxi verließ. Anschließend stieg er in einen Bus mit ungefähr fünfzig anderen Menschen, dann erreichte er am nächsten Tag zur Mittagszeit seinen nächsten Bustransfer.

Er fuhr mit dem Bus nach Agadez in Niger, wo er sich vier oder fünf Monate lang in einem Lager mit über 200 anderen Menschen versteckte. In dem Lager waren auch Frauen und Kinder, und alle hatten lediglich eine kleine Matte um in der Nacht auf dem Boden eines großen Raumes zu schlafen.

Zu Essen hatte er Pasta, Reis oder Garri und zu Trinken hatte er nur schmutziges Leitungswasser. Es war salzig und verursachte Magenschmerzen. Zunächst war es ihm möglich, mit dem sauren Magen zu leben, aber später auf seiner Reise hatte er deswegen Gesundheitsprobleme.

Wisdom durchquerte die Sahara auf der Ladefläche eines Kleinlasters gemeinsam mit 30 anderen Menschen, darunter vier Frauen und vier Kinder. Die Fahrt dauerte eine Woche. Sein Laster war einer von sieben Lastern, um Libyen zu erreichen.

Er hatte eine einzige Feldflasche mit Wasser bei sich, zusätzlich hatte er eine kleine Wasserflasche, die er in eine Tasche steckte. Er füllte die Behälter während der Fahrt auf, allerdings meistens nur mit schmutzigem Brunnenwasser. Der Brunnen roch schlecht. Er hörte, dass jemand gestorben war und dass die Leiche in den Brunnen geworfen worden war. Aber er war die einzige Wasserquelle, daher hatte er keine andere Wahl, als das Wasser daraus zu trinken.

“Wir müssen zusammenhalten um uns gegenseitig zu beschützen,” sagte Wisdom. Alle in dem Laster blieben als Gruppe zusammen, selbst wenn sie Kontrollpunkte erreichten, wo sie geschlagen und ausgeraubt wurden. Die Kontrolleure stohlen ihr Geld, Telephone, falls es welche gab, und alles andere, das irgendeinen Wert hatte. Alle in Wisdoms Laster überlebten.

Er kam in Gadron*, Libyen an und hielt sich ungefähr eine Woche lang in einem Lager auf, bevor er nach Sabha ging.

Wir müssen zusammenhalten um uns gegenseitig zu beschützen.
 



Wisdom blieb ungefähr sechs Monate lang in Sabha, Libyen, in einer zweckentfremdeten Fabrikhalle, in der sich über 2.000 Menschen aufhielten. Er sagte, dass es fast so wie auf einem vollen Boot auf dem Meer war: alle lagen Hüfte an Hüfte auf der Seite, um nachts auf dem Boden zu schlafen. Männer und Frauen wurden getrennt, und die Frauen wurden vergewaltigt, als Sklaven verkauft und dann wieder vergewaltigt und geschlagen.

Er war nicht erlaubt zu sprechen und wurde geschlagen, falls er die Regeln nicht einhielt oder sich sonst auffällig verhielt. Zu Essen hatte er ein kleines Stück Brot, das er mit drei Menschen teilen musste. Zu Trinken hatte er nur salziges Leitungswasser, das seinen Gesundheitszustand weiter verschlechterte.

Er wurde festgehalten, um Lösegeld zu erpressen und wurde gezwungen, zu Hause anzurufen um um Geld zu bitten. Er wurde auch an andere Menschen verkauft, um in der Umgebung zu arbeiten. Auch dort wurde er im Haus seines Arbeitgebers festgehalten, geschlagen und gezwungen, zu Hause anzurufen, allerdings hatte seine Familie kein Geld. Er wurde gezwungen, Tag und Nacht zu arbeiten.

Wisdom wurde während dieser Zeit von einer anderen Person entführt und als Sklave gehalten. In diesen sechs Monaten hatte er keine Freiheit. Eines Tages, ungefähr um fünf oder sechs Uhr morgens, entkam er durch ein offenes Fenster. Er fing an zu laufen ohne zu wissen, wohin er ging, bis er einem Menschen begegnete, der ihm half, sich in Sicherheit zu bringen.

“Ich würde sagen, dass Gott ihn schickte,” sagte Wisdom, der über Nacht bei ihm blieb, bis er weiterzog. Es waren noch andere dort bei ihm in dieser Nacht. Vier entkamen am nächsten Tag mit einem Laster nach Sabratha, einem Lager am Meer außerhalb Tripolis. Dort blieb er vier oder fünf Monate lang.

Er hielt sich wieder in einem offenen Lager auf mit  ungefähr 500 oder 600 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, die auf der gegenüberliegenden Seite des Lagers untergebracht waren. Er hatte kaum zu essen, lediglich ein Stück Brot täglich. Manchmal gab es einen Teller mit Nudeln, der unter drei bis fünf Menschen geteilt wurde. Er trank schmutziges, salziges Leitungswasser.

Eines Tages entkam er um angeln zu gehen, aber hörte schnell auf, als die Wellen zu hoch waren. Als er zurückging, ging er allerdings nicht zu dem ursprünglichen Lager, sondern er hielt an einer dafür bekannten Straßenecke, wo Menschen standen, die Arbeit suchten. Arbeitgeber hielten dort an und boten Tagelöhnern Arbeit an, um sie dann abends wieder dorthin zurückzubringen.

Er blieb dort eine ganze Woche lang, da der Besitzer ihn gut behandelte. Selbst wenn er sich drinnen aufhalten musst, wurde er nicht geschlagen oder sonstwie verletzt.

Er kehrte zurück zu dem Lager am Meer, als die Zeit der Überfahrt nach Europa kam. Schmuggler begannen, Namen auf einer Liste auszurufen, und alle beeilten sich an Bord zu kommen.

Wisdom überquerte das Mittelmeer in einem Schlauchboot mit 120-130 Menschen, darunter auch fünf oder sechs Frauen und vier oder fünf Kinder. Er wurde von einer Hilfsorganisation gerettet, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern kann, allerdings sagte er, dass er das Boot auf einem Bild erkennen würde, falls er eines sähe. Er kam am 12. April 2017 in Lampedusa an und wegen seines Magens wurde er sofort in ein Krankenhaus in Catania, Sizilien eingeliefert.

Jetzt ist Wisdom 23 Jahre alt und lebt in Frosinone, Italien, wo wir seine Geschichte am 7. Mai 2021 aufzeichneten.

Wisdom ist ein erstaunlicher Mensch.

* Der Name der Stadt konnte nicht bestätigt werden.

Übersetzung von: SR