Lerne Andrew kennen

Andrew in einem Park in der Nähe seiner Unterkunft. Limatola, Italien. 28. Oktober 2019. ©Pamela Kerpius

Andrew in einem Park in der Nähe seiner Unterkunft. Limatola, Italien. 28. Oktober 2019. ©Pamela Kerpius/Migrants of the Mediterranean

 



Lerne Andrew kennen.

29 Jahre alt und aus Nigeria.

Um nach Italien zu kommen, durchquerte er drei Länder: Nigeria, den Niger und das gefährlichste von allen, Libyen.

Er verließ den Bundesstaat Edo in Nigeria an Bord eines Busses. Das war der Beginn seiner Reise, die etwa sieben Monate dauerte.

Die Busfahrt dauerte 18 Stunden. Danach stieg er in ein Auto, das ihn an die etwa sechs Stunden entfernte Grenze zum Niger brachte. An der Grenze traf er auf viele andere Menschen, nicht nur Migranten, sondern auch Grenzbeamte, die nach seinen Papieren fragten. Er hatte seine Ausweisdokumente nicht mitgenommen und erzählte den Beamten, er wäre auf der Durchreise in den Urlaub.

Er stieg in ein anderes Auto, in dem außer ihm noch acht Männer und fünf Jungen saßen. Die Straße, auf der sie fuhren, war nicht asphaltiert, sondern eine abgelegene Wüstenstraße, auf der sie nicht von den Grenzbeamten gesehen werden konnten.

Danach gingen Andrew und die anderen zu Fuß weiter. Sie erreichten ein Wüstendorf, ein kurzer Zwischenstopp, an dem sie auf andere Kontaktpersonen treffen sollten. Dies hatte der Vermittler aus Nigeria im Vorfeld arrangiert. Sie verließen das Dorf auf Fahrrädern und fuhren viereinhalb Stunden bis zum nächsten Anschlusspunkt, einer Bushaltestelle.

Er nahm den Bus, den Express, wie er ihn nannte, um 10 Uhr abends und fuhr 15 Stunden lang. Im selben Bus waren noch andere Migranten. Ihr Ziel war Agadez, Niger.

Andrew blieb drei Tage in Agadez und wohnte in einer Hütte, die ihm ein alter Mann zur Verfügung gestellt hatte. Unauffällig verließ er sie, um etwas zu essen zu kaufen, zum Beispiel Brot und Reis zum Kochen. Überall in der Stadt waren Polizisten, die nach Migranten Ausschau hielten, um sie zu verhaften und abzuschieben, sagte er. Er wohnte alleine in der Hütte. Der Sohn des alten Mannes kam, um ihn abzuholen und ihn zum nächsten Anschlusspunkt zu bringen.

Dort warteten schon Tausende anderer Menschen, die alle auf verschiedene Kleinlaster aufgeteilt wurden. Es dauerte einige Stunden bis alle verteilt waren und sie losfahren konnten.

Andrew durchquerte die Sahara auf der Ladefläche eines Pickups zusammen mit 24 Personen, und zwar ohne Wasser dabei zu haben. „Niemand möchte mit dir teilen, wenn du dort unterwegs bist,” sagte er. Er tauschte etwas von seinem Essen, das er sich mitgebracht hatte – ein bisschen Brot, Milchpulver, Tea und Garri – gegen Wasser.

Ein Mann fiel aus dem Fahrzeug und starb. Der Fahrer hielt und versuchte, dem Mann zu helfen, doch dann nahm der zweite Fahrer seine Pistole und erschoss ihn. Andrew und die anderen hatten keine Möglichkeit, ihn zu bestatten.

Viele haben ihr Leben verloren…Es ist nicht sicher.


In der Wüste gab es Checkpoints, an denen die Passagiere von Soldaten geschlagen und die Frauen vergewaltigt wurden. In dem Fahrzeug, in dem sich Andrew befand, waren circa zehn Frauen.

Auf dem Weg sah er die Überreste von verunfallten Fahrzeugen und toten Menschen. Manchmal verirren sich die Fahrer in der Wüste, manchmal werden Menschen dort zurückgelassen.

Das Fahrzeug, in dem Andrew saß, hielt an einer Senke, nachdem ihnen das Wasser ausgegangen war. Jemand erzählte ihm, dass ein toter Körper darin versenkt worden war. Das Wasser stank, sagte er, doch es gab nichts anderes zu trinken, also trank er es.

Die Durchquerung der Sahara dauerte fünf Tage. Er fuhr an einem Montag los und kam an einem Freitag in Gaberoun, Libyen an, wo er einen halben Tage Pause machte und dann mit demselben Schlepper nach Sabha, Libyen weiterfuhr.

Andrew blieb drei Wochen lang in Sabha, bei einem Onkel, der dort ein Hotel betrieb. Er wohnte im Haus seines Onkels, doch er wagte sich nicht heraus, weil „kleine Jungs” hinter ihm her waren. Die kleinen Jungs griffen ihn trotzdem an, als sie unter Einsatz von Waffen das Haus ausraubten. Zwei Menschen starben durch die Kugeln und zwei weitere wurden verletzt, darunter die Frau seines Onkels.

Daraufhin verließ er Sabha und fuhr 24 Stunden lang versteckt in einem Auto nach Brak. Von dort ging es weiter nach Bani Waled, wo er vier Tage lang in einem Lager mit mehr als 800 anderen Menschen blieb. Ganze zwei Tage lang hatte er nichts zu essen und trank salziges Leitungswasser. Alle waren krank, sagte er, auch er selbst.

„Viele Menschen verloren ihr Leben auf der Flucht. Es ist nicht sicher,” sagte Andrew.

Von Bani Waled aus kam er nach Tripolis, wo er zwei Monate lang in einem zweistöckigen Haus mit mehr als 45 Menschen wohnte. Er ging nach draußen, aber er musste vorsichtig sein. Er behielt immer im Hinterkopf, dass ihn draußen jemand entführen könnte. Deshalb blieb er nie länger als zehn Minuten draußen. Kleine Jungs waren die größte Gefahr.

Zwei oder drei Minuten vom Haus entfernt gab es einen Markt, auf dem er Wasser und Essen kaufte, bevor er nach Hause ging. Andere aus dem Haus wurden entführt. Manche wurden von der Polizei festgenommen. Auch Andrew wurde festgenommen und blieb für ein paar Wochen im Gefängnis, bis er sich freikaufen konnte.

Ein Freund ist in Tripolis verloren gegangen. Sein Name war Gostan und er war ebenfalls Nigerianer.

Andrew machte sich auf den Weg an die Küste, nach Tyre, einem Strandabschnitt in Sabratha. Dort blieb er drei Monate. Er verließ die Küste an Bord eines aufblasbaren Bootes, genannt „Lapalapa”, zusammen mit 115 weiteren Personen, doch die kleinen Jungs schossen auf das Boot und es sank.

Er erreichte das Festland. Die Frauen, die auf dem Boot waren, wurden vergewaltigt. Die anderen erhielten Schusswunden und wurden geschlagen. Er rannte weg und traf auf einen Mann, von dem er dachte, dass er ihn mitnehmen würde, doch der ihn stattdessen festnahm. Er wurde ins Gefängnis gesteckt.

 

Im Gefängnis wurde er jeden Tag gefoltert, eine Woche und vier Tage lang, die gesamte Dauer seiner Inhaftierung. Er bekam Elektroschocks. Er litt Hunger, da er jeden Abend nur ein Stückchen Brot bekam, seine tägliche Ration.

Er rief den Schlepper an, der ihn ursprünglich auf See gebracht hatte, doch dabei kam nichts heraus. Schlussendlich rief er seine Familie an, damit sie die 1000 libyschen Dinar Lösegeld für seine Freilassung zahlten.

Andrew kehrte an den Strand Tyre in Sabratha zurück und blieb dort mit weiteren 300 bis 400 Menschen für einen Monat und drei Wochen. Er musste dem Schlepper entkommen, der ihn ursprünglich auf See verholfen hatte, denn der wollte ihn als Sklave verkaufen.

Er schlief im Freien, manchmal auf einem Stück von einer Schaumstoffmatratze, und aß Brot, Reis und manchmal etwas Lachs aus der Dose, den er auf einem kleinen Markt in der Stadt am Meer gekauft hatte.

Am 20. Oktober 2016 überquerte Andrew in einem Schlauchboot das Mittelmeer, zusammen mit 135 anderen, darunter einige Frauen, drei von ihnen schwanger, sieben Kindern und zwei Babys. Es war vier oder fünf Uhr morgens, als das Lapalapa die libysche Küste verließ.

Er befand sich fünf Stunden lang auf See bevor er von einer deutschen Rettungsmission in Sicherheit gebracht wurde. Eine Nacht blieb er auf deren Schiff, bevor er an die Guardia Costiera übergeben wurde. Alle an Bord überlebten. Er erreichte Catania auf Sizilien, Italien am 24. Oktober 2016.

Andrew ist ein erstaunlicher Mensch.

Übersetzung von: FW

Die Menge an Brot, die Andrew jeden Tag im Gefängnis bekam.

Die Menge an Brot, die Andrew jeden Tag im Gefängnis bekam.

 

 

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the
Open Encounters podcast